Rede zum 1.Mai 2005 in Wohlen

Als ich einem Kollegen erzählte, dass ich in Wohlen eine 1.Mai Rede halten werde, meinte er, was ich denn da sagen wolle. Die 1.- Mai-Feiern mit ihren klassenkämpferischen Parolen würden doch eigentlich nicht mehr ins 21. Jahrhundert passen.

Ich habe ihm dann erklärt, dass der Gedanke der Solidarität heute wichtiger denn je ist und dass wir ohne die über hundertjährige Geschichte der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie heute niemals dort stehen würden, wo wir heute stehen.

Viele Forderungen von einst sind dank Gewerkschaft und Sozialdemokratie heute erfüllt: Wir haben die AHV, eine Krankenversicherung, geregelte Arbeitsverhältnisse, gute Ausbildungsmöglichkeiten und endlich auch die Mutterschaftsversicherung.

Allerdings wird die Solidarität in fast allen Bereichen immer wieder hart auf die Probe gestellt. Neoliberale Fanatiker werden nämlich nicht müde, den Ab- und Umbau der angeblich nicht mehr bezahlbaren Sozialwerke zu fordern und damit Verunsicherung unter dem Volk zu schüren.

Beleuchten wir die von mir erwähnten sozialen Errungenschaften etwas näher:

Beispiel AHV

Die solidarische Finanzierung der AHV wird in Frage gestellt, die Erhöhung des Rentenalters steht nach wie vor im Raum. Dabei zeigt das wuchtige Volksnein zur 11. AHV-Revision im letzten Jahr ganz klar, dass die Leute keine Erhöhung des Rentenalters, sondern die Einlösung des langjährigen Versprechens eines sozial flexiblen Rentenalters wollen. Dafür kämpfen wir.

Beispiel Krankenversicherung

Obwohl im Krankenversicherungsgesetz vorgesehen, wird die Pflege nicht voll über die Grundversicherung finanziert. Die hohen Kosten der Pflege, insbesondere im Alter, sind ein Problem. Aber auch hier soll der Solidaritätsgedanke verschwinden: Die ältere Generation soll die Pflegekosten selber tragen und ab 50 eine teure – für weite Kreise unbezahlbare – Pflegeversicherung abschliessen. Von zusätzlichen Fr. 133.- monatlich ist die Rede. Dafür soll die Prämie der Jüngeren reduziert werden. Dieser sozialpolitische Rückschritt widerspricht dem Solidaritätsgedanken und ist der falsche Weg. Tatsächlich leiden immer mehr jüngere Personen unter der Prämienlast. Der Weg, sie zu entlasten, muss aber über die Prämienverbilligung oder endlich über einen Systemwechsel weg vom ungerechten Kopfprämiensystem hin zu einkommensabhängigen Prämien, wie sie ganz Europa kennt, gehen.

Zu den geregelten Arbeitsverhältnissen

Schleichend werden Bestimmungen des Arbeitsgesetzes verwässert. Seit 2000 ist es möglich, Frauen für Nachtarbeit in industriellen Betrieben beizuziehen oder sie für bewilligte Sonntagsarbeit einzusetzen.

Heute sind Jugendliche bis 19/20 Jahren vor Nacht- und Sonntagsarbeit weitgehend geschützt. Jetzt soll das Jugendschutzalter am Arbeitsplatz gesenkt werden. Jugendliche, auch Lehrlinge, sollen neu ab 18 wie Erwachsene beschäftigt werden. In Zukunft würden sie im Gastgewerbe, in Spitälern, Bäckereien oder in Telekommunikationsbetrieben in grossem Ausmass zu Nacht- und Sonntagsarbeit oder zu Überzeitarbeit herangezogen werden können. Damit wären Arbeitszeiten von über 60 Stunden die Woche möglich. Heute dürfen Lehrlinge maximal 9 Stunden im Tag arbeiten, inkl. Überzeitarbeit und obligatorischem Unterricht.

Und das wird notabene verkauft als Massnahme zur Eindämmung der Jugendarbeitslosigkeit. In der Tat herrscht Handlungsbedarf bezüglich Jugendarbeitslosigkeit. Aber nicht auf diese Weise!

Katastrophe Jugendarbeitslosigkeit

Unter den Deutschschweizer Kantonen weist der Kanton Aargau nach dem Kanton Zürich die höchste Jugendarbeitslosigkeit auf. Von den im Aargau wohnhaften 15- bis 24-jährigen Erwerbstätigen waren Ende September 2004 5,5 Prozent arbeitslos. Mit 6,5 Prozent besonders stark betroffen waren die 20- bis 24-jährigen; unter ihnen viele Lehr- und Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen. Das ist eine Katastrophe und eigentlich müssten die Regierungen mit parlamentarischen Vorstössen überhäuft werden und die Medien in einem kollektiven Aufschrei zusätzlich Druck ausüben! Was haben uns die Gegner der Lehrlingsinitiative nicht alles versprochen? Wenig an griffigen Massnahmen ist bisher passiert.

Dabei ist das Hauptproblem erkannt: Die Übergänge sind von zentraler Bedeutung. D.h. der Übergang von der Schule in die Lehre und der Übergang vom Lehrabschluss in die Berufswelt.

VolksschulabgängerInnen finden keine Lehrstelle. Also braucht es mehr Ausbildungsplätze. Nur 17% der Betriebe bilden Lehrlinge aus.

  • Nicht-Ausbildende „Trittbrettfahrer“ sind zu verpflichten, finanzielle Beiträge in einen Branchenfonds einzuzahlen, dessen Geld wiederum der Ausbildung zugute kommt. Dadurch könnten mehr Ausbildungsstellen geschaffen werden.
  • Es darf keine Schulabschlüsse ohne Regelungen des Anschlusses mehr geben. Die Koordination liegt bei Schule, Gewerbe und Elternhaus. Die Lehrkräfte der Oberstufe sind entsprechend aus-, bzw. weiterzubilden.
  • Betriebe sollten verpflichtet werden, Lehrabgängerinnen noch wenigstens ein Jahr weiter im Betrieb zu beschäftigen. Dies erhöht die Chancen, später eine Stelle zu finden.

Ich habe vor Monaten in einem Vorstoss unter anderem diese drei Massnahmen vorgeschlagen. Alles, was ich bis heute bekommen habe, ist ein Entschuldigungsbrief des Innendirektors, dass man die 3-Monatsfrist für die Beantwortung leider nicht einhalten könne, aber mit Hochdruck an Lösungen arbeite.

Mit Verkaufspersonal solidarisieren

Ich bin ja Kantonspolitiker und darum möchte ich jetzt noch zwei wichtige Beispiele von drohender Entsolidarisierung beim Kanton erwähnen: Aktuellstes kantonales Beispiel für die Verwässerung von Gesetzen zum Schutz der Arbeitnehmerschaft ist die geplante Aufhebung des Ladenschlussgesetzes.

1996 haben sich die Aargauer Stimmberechtigten mit den über 20 000 Beschäftigten des Detailhandels solidarisch gezeigt und eine weitgehende Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten abgelehnt. Trotzdem wurde vor zwei Jahren über das revidierte Ladenschlussgesetz, das längere Öffnungszeiten ermöglicht, abgestimmt. Damals wurde vom Regierungsrat und der Parlamentsmehrheit versprochen, dass das nun revidierte Gesetz den heutigen Bedürfnissen entspreche. Diesen Januar nun hat die Parlamentsmehrheit das Ladenschlussgesetz ersatzlos aufgehoben. – wir werden dieses Jahr noch darüber abstimmen.

22 282 Beschäftigte des Aargauischen Detailhandels, davon 68% Frauen, sind davon betroffen. Sie sollen womöglich rund um die Uhr und auch sonntags im Laden stehen. Über die Arbeitsbedingungen dieser Menschen und die Auswirkungen auf ihre Familien wird kein Wort verloren. Gesamtarbeitsverträge im Verkauf sind übrigens Mangelware. Die Mehrzahl des Personals steht nicht unter dem Schutz eines Gesamtarbeitsvertrages, und ein kantonaler Normalarbeitsvertrag für den Detailhandel besteht im Aargau auch noch nicht. Ein Normalarbeitsvertrag, der zumindest allgemein verbindliche Mindestlöhne vorschreibt, wäre das mindeste.

Ich appelliere hier heute schon an eure Solidarität mit den Angestellten und ihren Familien, aber auch mit den kleinen Detaillisten, die punkto Öffnungszeiten nicht mit den Grossen mithalten können.

Geld holen, wo es nicht weh tut

Zuletzt möchte ich noch auf eine der kantonalen Abstimmungsvorlagen vom 5.Juni zu sprechen kommen, deren Würdigung angesichts der grossen und wichtigen eidgenössischen und kantonalen Vorlagen allzu leicht untergehen könnte, was den Befürwortern des Referendums noch so passen würde. Auch hier geht es um Entsolidarisierung! Es geht um 0,5 Promille – für einmal aber nicht um den erlaubten Alkoholgehalt zur Fahrtüchtigkeit!

Bekanntlich hat der Regierungsrat ein so genanntes Entlastungs- sprich Sparpaket von 786.8 Mio. Franken für die Jahre 2004 bis 2006 geschnürt. Eine große Mehrheit der Bevölkerung spürt heute die direkten Auswirkungen der vom Parlament beschlossenen Abbau- und Sparmassnahmen insbesondere im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

Eine der wenigen einnahmeseitigen Massnahmen, die vom Parlament am 22.Juni 2004 gut geheißen wurde war eine auf 7 Jahre befristete Erhöhung der Grundbuchabgaben um 0,5 (!) Promille. Bei Handänderungen an Grundstücken beträgt die Abgabe heute 5 ‰ der Kauf- oder Übernahmesumme, mindestens jedoch Fr. 100.--. Auch nach der Erhöhung dieses Satzes um ein halbes Promille erheben bis auf den Kanton Zug alle umliegenden Kantone etwa das Drei- bis Fünffache des Kantons Aargau!

Sechs Aarauer Anwälte mit Unterstützung des Aargauischen Gewerbeverbandes, der Industrie- und Handelskammer, dem Hauseigentürmerverband und den Immobilientreuhändern haben gegen diesen moderaten Entscheid des Parlaments das Referendum ergriffen. Lehnen wir die moderate Erhöhung der Grundbuchabgaben ab, fehlen ab 2006 jährlich 2,2 Millionen Franken in der Staatskasse. Geld, das man z.B. dazu brauchen könnte, die Streichung von 2 Lektionen Textilem Werken in der 2.Klasse der Primarschule rückgängig zu machen.

Egoismus und Eigennutz

Diese Sparmassnahme führte zur Entlassung von 45 TW Lehrerinnen. Unterdessen finanzieren einzelne Gemeinden und sogar Eltern die TW Lehrkräfte, damit der Unterricht nach wie vor stattfinden kann. Schön für die Kinder dieser Gemeinden, aber was ist mit den andern? Es ist doch ganz klar Aufgabe des Kantons, eine ganzheitliche Bildung zu bieten und nicht eine Zweiklassengesellschaft zu fördern. Aber man wehrt sich lieber gegen moderate Mehreinnahmen, welche dort, wo es wenig weh tut, zu holen wären.

Wir sehen wie weit Egoismus und Eigennutz führt. Doch die, welche solches vertreten, haben bei den letzten Grossratswahlen eine schallende Ohrfeige erhalten und die neuen Verhältnisse im Parlament stimmen mich zuversichtlich. Ich appelliere an euch, der Erhöhung der Grundbuchabgaben am 5.Juni ganz klar zuzustimmen.

Solidarität lebt

Der 1.Mai ist für mich ein ganz wichtiger Tag. Der Regierungsrat will die Feiertagsregelung im ganzen Kanton vereinheitlichen. Der 1.Mai soll kein Feiertag sein, da dies im Aargau keine Tradition habe. Was für ein schwaches Argument. Dann ist es eben höchste Zeit, dass der 1.Mai auch im Aargau zur Tradition wird! Wir fordern diesen Feiertag, denn der 1.Mai ist die Gelegenheit, aufzuzeigen, was gelebte Solidarität bedeutet.

Die sozialpolitischen Abstimmungen im letzten Jahr machen Mut und haben gezeigt, dass sich unser Kampf lohnt. Die Mehrheit der Menschen in unserem Land will keine Zweiklassengesellschaft: Wir haben das ungerechte Steuerpaket versenkt, die unsoziale 11. AHV-Revision abgelehnt, das neue mieterfeindliche Mietrecht abgewehrt und die Mutterschaftsversicherung angenommen. Trotz millionenschwerer Propaganda der bürgerlichen Parteien und den Wirtschaftsverbänden haben wir auf der ganzen Linie gewonnen, was einmal mehr zeigt, dass die Solidarität lebt.