Zur Strukturreform der Aargauischen Volksschule

Welche Strukturen brauchen wir heute?

Die Grundzüge unserer Schulstrukturen sind 167 Jahre alt geworden. Der strukturelle Umbau der Staatsschule in unserem stark föderalistisch aufgebauten Bildungswesen war über ein Jahrhundert kein vordringliches Thema, massgebliche pädagogische Reformen wurden innerhalb der bestehenden Strukturen umgesetzt. Warum also können wir nicht auf diesem Weg fortfahren? Der nachhaltige gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte und die wachsenden sozialen Unterschiede stellen heute Herausforderungen dar, die nicht mehr bloss durch innere Reformen sondern auch über Veränderungen bestehender Strukturen zu lösen sind. Die wünschbaren Bestrebungen nach interkantonal harmonisierten Schulstrukturen sind das eine, die dringend notwendige Entschärfung strukturell begründeter Probleme (u.a. Einschulung, Situation der Realschule) an der Aargauer Volksschule das andere.

Die Tatsache, dass die grossrätliche Kommission für Erziehung, Bildung und Kultur mehrere Sitzungen gebraucht hat, um die Botschaft des Regierungsrates zur Strukturreform (STRESA) zu diskutieren zeigt, dass mit der Strukturreform auch eine Diskussion über Identität und Werte einhergeht. Deshalb verwundert es nicht, dass das Modell Gamma-Plus, d.h. die beabsichtigte Zusammenlegung von Real- und Sekundarschule zu einer neuen Sekundarschule mit Leistungskursen und die Einführung einer zweigliedrigen Bezirksschule von drei und vier Jahren Dauer, am meisten zu reden gab. Statt sich auf einen (aussichtslosen) Kampf um die Weiterverfolgung des Strukturmodells Gamma-Plus einzulassen und womöglich den Abbruch der ganzen Strukturreform mitsamt ihren unbestrittenen Anliegen zu riskieren, hat der Regierungsrat richtig erkannt, dass die der Oberstufenreform zugrunde liegenden Erkenntnisse noch einer breiteren und vertiefteren Diskussion bedürfen.

Einer alarmierenden Erfahrung, die wir nicht erst seit dem internationalen Leistungsvergleich der PISA Studie kennen, muss besondere Aufmerksamkeit zuteil werden: Unsere heutigen Strukturen zementieren erwiesenermassen soziale Unterschiede. Jugendliche, die in einem bildungsnahen Familienklima aufwachsen, haben zum Vornherein bessere Voraussetzungen, die von der Schule geforderten Leistungen zu erbringen als fremdsprachige Jugendliche oder solche aus bildungsfernen Elternhäusern. Es muss uns gelingen, durch geeignete Massnahmen die ungleichen Leistungsvoraussetzungen dieser Kinder zu verringern und durch geeignete Strukturen die Nachteile der sozialen Herkunft zu mindern. Ein Blick in Länder wie Finnland, Kanada und Neuseeland, deren Jugendliche im PISA Test signifikant bessere Leistungen als Schweizer Jugendliche erbracht haben zeigt, dass frühere Einschulung, Tagesschulstrukturen und individualisierender Unterricht für qualitativ hohe Leistungen offensichtlich wichtiger sind als die strikte Unterteilung in homogene Leistungsgruppen. Im Übrigen führt nicht einmal die Trennung in mehrere Züge zu den erhofften leistungsgleichen Gruppen, denn in jedem Zug ist ein grosser Teil des ganzen Leistungsspektrums vorhanden. Dies spricht eindeutig für eine flexiblere Gestaltung und Durchlässigkeit der Strukturen als wir sie heute haben. Veränderungen sollen zur Behebung erkannter Mängel und Probleme beitragen. Ausgehend von dieser Zielvorstellung plädiert der Aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverband (alv) in seinem ausgereiften, von praktisch tätigen Lehrkräften und Bildungsfachleuten gleichermassen getragenen Strukturmodell unter anderem für Niveau-Gruppenunterricht und eine verstärkte Zusammenarbeit an der gesamten Sekundarstufe I. Im Hinblick auf die nun anlaufende Vernehmlassung empfehle ich allen Interessierten, die fundierte Lektüre beim alv zu bestellen und zu studieren.

März 2002